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Internationaler Meinungs- und Erfahrungsaustausch zur UN-Behindertenrechtskonvention

Gruppenfoto mit Männern und Frauen vor einer Tafel zur Konferenz, einige von ihnen mit Rollstuhl
Gruppenfoto der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konfernez
Foto: Rasmila Alaverdyan

BERLIN (kobinet) Im Herbst dieses Jahres hatte in der armenischen Hauptstadt Jerewan eine internationale behindertenpolitische Konferenz stattgefunden, in deren Mittelpunkt der Erfahrungsaustausch zu den Artikeln 19 und 20 stand. Das ABiD-Institut Behinderung & Partizipation e.V. (IB&P) waren bei diesem Treffen durch André Nowak und Monika Tharann vertreten. Nach ihrer Rückkehr konnten wir von kobinet mit ihnen darüber sprechen.



kobinet: Könnten Sie uns bitte etwas mehr zu dieser internationalen Konferenz und ihrem Anliegen sagen.

André Nowak: Gern. In Kooperation mit der Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen/ UNDESA und dem Ministerium für Arbeit und Soziales der Republik Armenien hatte der Dachverband der armenischen Behindertenorganisationen UNISON zu dieser Konferenz eingeladen. Der Einladung waren Vertretungen von Behindertenorganisationen aus den elf Ländern Armenien, Belarus, Deutschland, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau, Russland, Tadschikistan, der Ukraine und Usbekistan gefolgt.

Monika Tharann: Diese Konferenz stand unter dem Thema „Unabhängiges Leben vom Menschen mit Behinderungen in der Pandemie und in der Zeit danach“ und beschäftigte sich somit vor allem mit den Artikel 19 und 20 der UN-Behindertenrechtskonvention. In den Vorträgen wurden dementsprechend von allen Ländern konkrete Aktivitäten zur Umsetzung der beiden Artikel, also bei der Entwicklung des selbstbestimmten Lebens und der individuellen Mobilität vorgestellt. Beeindruckend war, dass deutliche Fortschritte in der Behindertenpolitik präsentiert werden konnten.

So wurde in Belarus am 27. Februar 2022 die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der Verfassung (Artikel 47) verankert und ergänzend dazu am 30. Juni ein sehr umfassendes Gesetz (Nummer 183-Z) verabschiedet. In mehreren Staaten, u.a. in Armenien, Georgien und Tadschikistan wurden Zentren für selbstbestimmtes Leben gegründet. In Usbekistan wird ein Nationaler Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention erarbeitet.

kobinet: Wenn man zu diesen Fortschritten in der Behindertenpolitik der teilnehmenden Länder eine Wertung treffen sollte – wo könnte man dabei Deutschland einordnen?

André Nowak: Ein Ranking kann man hier nicht aufstellen, aber es gibt Bewegung in allen Ländern und auch die Probleme sind mir aus den Diskussionen in Deutschland nicht unbekannt. In meinem Diskussionsbeitrag habe ich über wichtige Daten zur Umsetzung der Konvention in Deutschland berichtet und dabei die Relevanz der Zusammenarbeit von betroffenen Menschen, Politik und Wirtschaft, der Einheit von Bilden, Fordern und Fördern und die Notwendigkeit von Barrierefreiheit in der gesamten Infrastruktur betont. Auch im reichen Deutschland kann nach 13 Jahren Konvention von vollständiger Barrierefreiheit im öffentlichen Personenverkehr noch keine Rede sein und offene Kritik daran ist weiter geboten. Herausgestellt haben wir ebenso, dass die Umsetzung der Konvention nicht von selbst geschieht – nach unserer Erfahrung ist sie ein schwieriger und langwieriger Prozess.

kobinet: Eine Konferenz zur Behindertenpolitik mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus diesen Ländern – ist das nicht ungewöhnlich?

André Nowak: Der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ (ABiD) arbeitet seit 2006 mit Behindertenorganisationen in den Staaten auf dem Gebiet der früheren UdSSR zusammen. Nach der Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention in der UNO-Vollversammlung 2006 und deren Inkrafttreten 2008 hatten sich nationale Verbände im postsowjetischen Raum im Jahr 2009 zum Internationalen Verbund der Dachorganisationen von Menschen mit Behinderungen (IVB) zusammengeschlossen. Im November 2014 unterzeichneten ABiD und IVB in Berlin eine Kooperationsvereinbarung, die ihre Zusammenarbeit auf eine feste Grundlage stellte. Besonders Dr. Ilja Seifert hatte sich an der Spitze des ABiD und später des von ihm mitgegründeten IB&P besonders engagiert und die Zusammenarbeit mit Behindertenorganisationen in allen postsowjetischen Ländern wesentlich mit auf den Weg gebracht. Er gehörte zu den Mitbegründern des IVB und war gleichzeitig Brückenbauer zwischen dem IVB und dem Europäischen Behindertenforum (EDF), was von den IVB-Mitgliedsorganisationen sehr hoch geschätzt wurde.

Teilweise auch mit Unterstützung des ABiD aus Deutschland wurden fast jedes Jahr internationale Treffen des IVB in verschiedenen Ländern durchgeführt. Erfahrungsaustausche zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention fanden bisher in der Ukraine, in Belarus, Kasachstan, Georgien, Tadschikistan und schon mehrfach in Deutschland statt. Die letzten Konferenzen waren 2018 in Taschkent (Usbekistan) und 2019 in Berlin sowie in Baku (Aserbaidschan). Dabei arbeitete der ABiD auch mit dem Bundesverband Deutscher West-Ost-Gesellschaften (BDWO), der Stiftung West-Östliche Begegnungen, dem Auswärtigen Amt und der AktionMENSCH zusammen. Darüber hinaus gab es mit Hilfe des ABiD projektfinanzierte Teilnahmen für Mitglieder des IVB an Foren in weiteren Ländern.

Im Jahr 2017 gelang es dann dem tadschikischen Dachverband, die UNDESA als Partner der internationalen Konferenzen zu gewinnen und diese Treffen damit langfristig auf eine gesicherte finanzielle Basis zu stellen.

Monika Tharann: Mich hat beeindruckt, welche Wertschätzung uns von den Delegationen dieser Länder entgegengebracht wurde. Nach unserer Ankunft in Jerewan war es sehr berührend, dass alle Vertreterinnen und Vertreter des IVB bereits auf den allerersten Begegnungen mit uns im Hotel spontan ihr Beileid zum Ableben von Ilja Seifert zum Ausdruck brachten. Auch zu Beginn des internationalen Seminars baten die armenischen Gastgeber um eine Minute stillen Gedenkens an Ilja Seifert und an den im Vorjahr verstorbenen Vorsitzenden des kasachischen Behindertenverbandes Ali Amanbaev.

André Nowak: In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf eine Besonderheit hinweisen: Erstmalig waren zur Konferenz auf Initiative Oleg Serezhin von der UNDESA neben den nationalen Behindertenverbänden auch Vertretungen der zuständigen Ministerien eingeladen. Ziel dieser Einladung war es, dass die praxisbezogenen Berichte der gesellschaftlichen Organisationen über die Probleme vor Ort in ihren Ländern auch die nationalen Behörden erreichen. Sie können so den offenen und von Vertrauen geprägten Disput auf Augenhöhe miterleben, der in diesem partizipativen Format in den staatlichen Stellen der IVB-Mitgliedsländer meist so nicht üblich ist.

kobinet: Wenn ich mir die Liste der Vertreterinnen und Vertreter der teilnehmenden Länder ansehe, dann sind darunter welche, die im militärischen Konflikt miteinander, ja sogar im Krieg gegeneinander stehen. Hat sich das auf die Konferenz ausgewirkt?

Monika Tharann: Die Berichte der ukrainischen Teilnehmenden aus erster Hand am Rande der Konferenz zur gerade erfolgten Bombardierung von Kiew zu hören, haben uns noch einmal total geschockt, sprachlos gemacht. Und das besondere Leid der Menschen mit Behinderungen in der Ukraine nach zwei Jahren Corona und nun vergrößert durch den russischen Angriffskrieg haben unserer Betroffenheit noch mal eine neue Dimension verliehen. Auch die militärischen Konflikte zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie zwischen Kirgisistan und Tadschikistan spielten in den Gesprächen eine Rolle.

Dennoch konnte die Konferenz in einer guten Atmosphäre stattfinden, weil alle Beteiligten die Kommunikation miteinander gerade auch in dieser schwierigen Zeit wollten und weil es verlässliche Partner gibt, die auf der Basis von gewachsenem gegenseitigem Vertrauen Wege und Mittel für den wichtigen grenzüberschreitenden Austausch finden.

André Nowak: Das kann ich nur bestätigen. Die Konferenz hat einmal mehr gezeigt, dass internationale gesellschaftliche Partner dort, wo der Wille zur Verständigung besteht, auch einen Weg finden, im Gespräch zu bleiben, gemeinsam zu handeln und sich auch mit all ihrer Gegensätzlichkeit um einen Konferenztisch versammeln können.

kobinet: Das alles hört sich nach einem umfangreichen Tagungsprogramm an. Gab es auch Möglichkeiten, das Gastgeberland etwas kennen zu lernen?

Monika Tharann: Ein kultureller Höhepunkt war ein kleines Konzert des inklusiven Kammerchors PAROS. Zum Programm gehörte auch ein Besuch im Katastrophenschutzministerium, in dem 39 Menschen mit Behinderungen arbeiten. Beim Gespräch im Lagezentrum wurden wir über die Belange von Menschen mit Beeinträchtigungen in Katastrophensituationen informiert. Weitere Programmpunkte waren ein Besuch des Ararat-Museums, eine Führung durch das Matenadaran (das für Armenien Identität stiftende und daher besonders wichtige Institut für antike Handschriften), sowie ein Ausflug zu den Kirchenschätzen in der Stadt Etschmiadzin.

André Nowak: Dem bleibt nur zu ergänzen, dass die zweitägige Konferenz auch eine gute Gelegenheit für zahlreiche Gespräche mit einzelnen Behindertenorganisationen bot. Dabei wurde ebenfalls auch zu künftigen gemeinsamen Vorhaben gesprochen.

kobinet: Ich bedanke mich im Namen der kobinet-Redaktion für dieses interessante und informative Gespräch und wünsche dem ABiD-Institut Barrierefreiheit und Partizipation weiterhin eine erfolgreiche Arbeit.