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IPReG – Mehr Fragen als Antworten

Portraitfoto Maria-Cristina Hallwachs
Foto Maria-Cristina Hallwachs
Foto: Maria-Cristina Hallwachs

Hollenbach (kobinet) Das Intensiv-Pflege- und Rehabilitatsionsstärkungsgesetz (IPReG) ist in Kraft und die wenigsten der davon betroffenen Menschen kennen es ausreichend. Deshalb unterhielt sich kobinet-Redakteur Gerhard Bartz mit Maria-Cristina Hallwachs, die bei der Deutschen Interdisziplinären Gesellschaft für Außerklinische Beatmung (DIGAB) e.V. als Betroffenenvertreterin mitarbeitet.

kobinet-nachrichten: Die als unbedingt notwendig erachtete Potenzialprüfung kann ausschließlich von Fachärzt:innen gemacht werden, die einen Bezug zur Beatmung haben. Je nach Spezialisierung müssen diese auch noch zusätzliche Kenntnisse nachweislich erwerben. Bei dem derzeitigen Ärztemangel trifft das auf wenige Ärzte überhaupt zu. Wo findet man einen entsprechenden Arzt in der Nähe, der noch neue Patienten aufnimmt?

Maria-Cristina Hallwachs: Die Kriterien, die vorgeschrieben sind, damit ein Arzt eine Potenzialerhebung (es geht hier um die Möglichkeit, Menschen von der künstlichen Beatmung zu entwöhnen und / oder den Luftröhrenschnitt zu verschließen) machen darf, sind tatsächlich haarklein aufgelistet. Hinzu kommt, dass die danach erfolgende Verordnung und der Behandlungsplan von einem zweiten Arzt erstellt werden müssen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen können niedergelassenen Hausärzt:innen die Genehmigung zur Verordnung von Außerklinischen Intensivpflege (AKI) erteilen, wenn diese nachgewiesen haben, dass sie „Kompetenzen im Umgang mit beatmeten und trachealkanülierten Versicherten verfügen„. Hausärzt:innen können für die Verordnung Fachärzt:innen hinzuziehen. Die Verordnung für Versicherte ohne Beatmung und ohne Trachealkanüle erfolgt durch das ausschlaggebende Fachgebiet. Alles sehr komplexe und umfangreiche Aufgaben, die bei jedem einzelnen, beatmeten Menschen viel Zeit und sehr individuelle Begutachtungen benötigen werden. Mir ist es ein Rätsel, wie ein solches Gesetz in Kraft treten kann, bei dem schon zu Beginn klar ist, dass die Menschen zur Durchführung fehlen. Es gibt nicht genug Ärzte, die alle Kriterien dafür erfüllen und es wird sich auch niemand zusätzlich qualifizieren lassen, solange es hierfür keine adäquate Vergütung gibt. Noch schwieriger wird es im Bereich der Kinder und Jugendlichen mit Beatmung werden. Hier fehlt es ja schon vor Inkrafttreten der Richtlinie des GBA an allen Ecken und Enden.

kobinet-nachrichten: Und wie und wie oft soll die Überprüfung überhaupt vonstatten gehen? Müsste man nicht auch nach derselben Logik Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer regelmäßig testen, ob sie nicht doch laufen können?

Maria-Cristina Hallwachs: Es gibt inzwischen Musterbögen, die die/der entsprechende Ärzt:in ausfüllen muss und aus denen dann ersichtlich sein soll, ob und welche Möglichkeiten zu einem Leben ohne Atemgerät bestehen. Hier wird auch festgeschrieben, wann die nächste Potenzialerhebung erfolgen soll, wenn derjenige selbst sich nicht vorher eine zusätzliche Untersuchung wünscht.

Ursprüngliches Ziel der ersten Version dieses Gesetzes, des RISG, war es ja unter anderem, die schwarzen Schafe zu identifizieren. Gemeint war damit, dass man Menschen, die beatmet werden, weil dies viel Geld bringt und nicht, weil diese tatsächlich eine Beatmung benötigen, herausfiltern wollte. Nun kenne ich persönlich niemanden, der sich freiwillig beatmen lässt, um damit Geld zu verdienen. Es gab aber in der Vergangenheit tatsächlich skrupellose Pflegedienste, Einrichtungen und auch Angehörige, die mit beatmeten und nicht selbst entscheidungsfähigen Personen Geld gemacht haben. Diese schwarzen Schafe wird es leider immer wieder geben. Der Großteil der Akteure in dieser speziellen Szene handelt jedoch sehr verantwortungsbewusst und im Sinne der Menschen mit Beatmung beziehungsweise gemeinsam mit diesen.

Es gibt Erkrankungen, deren Fortschreiten die Atmung beeinflussen wie zum Beispiel eine Muskelerkrankung. Hier wird in der Regel der Bedarf an Atemunterstützung und Beatmung immer größer werden und nicht weniger. Es gibt Menschen, die mit großer Anstrengung selber atmen könnten, die aber trotzdem beatmet werden. Diese Anstrengung bedeutet nämlich, dass sie nichts mehr anderes in ihrem Leben tun könnten, als sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Das heißt „Beatmung“ bedeutet in diesem Fall „Lebensqualität“ und nicht finanzielle Bereicherung.

kobinet-nachrichten: Wie oft im Jahr muss eine Verordnung für Häusliche Krankenpflege bei der Krankenkasse eingereicht werden?

Maria-Cristina Hallwachs: Bisher hat tatsächlich der Hausarzt eine Verordnung zur Häuslichen Krankenpflege (HKP) geschrieben, die regelmäßig erneuert werden musste. Innerhalb der häuslichen Krankenpflege wurde dann die Intensivpflege stillschweigend „mit-“ gemacht. Mit dem IPReG ändert sich das Ganze: Die außerklinische Intensivpflege hat jetzt endlich einen eigenen Status, wird also zum ersten Mal explizit in einem Gesetz (SGB V, §37c) in Worte gefasst. Das ist gut und sehr wichtig für uns. Es ist eine Verordnung für 6 Monate vorgesehen und dann stehen verschiedene Szenarien für Folgeverordnungen zu Verfügung. Aber schon jetzt ist klar, dass die Umsetzung der GBA-Richtlinie begleitet werden muss und auch ganz sicher nachgebessert werden wird.

In der Praxis gilt momentan, dass jeder sich nach altbewährtem Prinzip mit der Verordnung seines zuständigen Arztes ausstatten sollte. Letzte Gelegenheit sich diese schreiben zu lassen, ist der 30.09.2023 und diese Verordnung gilt dann nochmal 6 Monate. Danach bleibt uns erstmal nur, abzuwarten, wie sich das Ganze entwickelt.

kobinet-nachrichten: Wie ist der Ausgang der Potenzialprüfung zu bewerten? Muss man im Krankenhaus immer wieder Entwöhnungsversuche zulassen, auch wenn seit Jahren feststeht, dass der Beatmungsrhythmus gut eingestellt ist. Oder muss man ins Heim, weil man nicht entwöhnungsfähig ist, da nur dort die Kontrolle gesichert sei?

Maria-Cristina Hallwachs: Das System der Potenzialerhebungen und Verordnungen erscheint mir extrem kompliziert. Es sieht eine Potenzialerhebung vor jeder Verordnung vor. Das heißt, der Rhythmus der Potenzialerhebung richtet sich nach den Verordnungsintervallen, bei einer Erstverordnung also fünf Wochen, bei den Folgeverordnungen 6 Monate. Wenn kein Entwöhnungspotenzial festgestellt werden kann, sind es 12 Monate. Erst wenn zwei Mal in zwei Jahren genau dies festgestellt wurde, wird auf die zwangsweise Potenzialerhebung verzichtet. Auf Wunsch der Versicherten sind auch in diesem Falle fachärztliche Untersuchungen mit dem Ziel der Verbesserung der Behandlung möglich.

Zu der Frage des Wechsels des Versorgungsortes, des Wechsel aus der häuslichen Versorgung in ein Heim, mache ich mir wenig Sorgen. Es wird eher der Fachkräftemangel sein, der Menschen mit Beatmung in Einrichtungen bringen wird, die Tatsache, dass es immer weniger Assistenten oder Pflegekräfte gibt, die diese Arbeit machen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass bestehende und gut funktionierende Versorgungen aufgelöst werden, aber ich befürchte, dass bei Neuversorgungen die Hürden so hoch sind, dass diese nicht mehr realisiert werden können. Was nützt es mir, wenn der Gesetzgeber die tollsten Zusatzqualifikationen für meine Pflegekräfte vorschreibt, ich aber schon heute, ohne diese Regelungen, keine Pflegekräfte mehr finde. So werden Menschen immer öfter in Heime und noch mehr in spezielle „Beatmungs-WG’s“ entlassen, auch mit der Begründung, dass die Erst-Rehabilitationszeiten immer kürzer werden und die Menschen danach erstmal lernen müssen, was sie eigentlich benötigen. Später aus diesen Wohnformen wieder herauszukommen, kostet unglaublich viel Kraft und benötigt einen eisernen Willen.

Ich empfinde es schon als ungeheuerliche Anmaßung seitens des Gesetzgebers, von einer bestimmten Gruppe von Menschen einen durch Fachpersonal mit hoher Qualifikation garantierten Lebenswandel zu verlangen (im medizinischen Sinne). Und wenn dies nicht möglich ist, auch noch erpresserisch die Finanzierung zu versagen und als einzige pauschale Lösung eine Heimunterbringung vorzuschlagen (die offensichtlich automatisch als „besser und qualitätsvoller“ erachtet wird).

Versicherte mit AKI-Anspruch wären zudem die erste Patientengruppe, bei der die Behandlungs- und Pflegekostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung vom „vernünftigen gesundheitlichen“ Verhalten der Versicherten abhängt. Bei der Behandlung der Folgen von Alkoholismus, Rauchen, Übergewicht und leichtsinnigem Verhalten bei Sport oder Verkehr tritt die gesetzliche Krankenversicherung stets bedingungslos ein. Offensichtlich schließt in den Köpfen der Gesetzgeber Intensivpflegebedarf das Recht auf „medizinische Unvernunft“ aus.

kobinet-nachrichten: Nach Artikel 4 der Behindertenrechtskonvention dürfen nur noch Gesetze verabschiedet werden, die dem Geist der Konvention nicht widersprechen. Das ist aber gerade hier der Fall, den denn die UN-Behindertenrechtskonvention garantiert den Menschen, nicht auf ein Leben in stationären Wohnformen festgelegt zu werden, sondern unabhängig von Art und Schwere der Beeinträchtigung ein Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Sie sind Vertreterin der Betroffenen in der Deutschen Interdisziplinären Gesellschaft für Außerklinische Beatmung DIGAB e.V. Wurde dort schon darüber nachgedacht, im Hinblick auf Artikel 3 des Grundgesetzes dieses Gesetz verfassungsrechtlich prüfen zu lassen?

Maria-Cristina Hallwachs: Natürlich haben wir darüber schon nachgedacht, aber das ist ja immer wieder das Dilemma meiner Arbeit. Die Kapazitäten von Menschen mit Intensivpflegebedarf sind nicht unendlich (sonst hätten wir keinen Intensivpflegebedarf) und müssen gut organisiert werden. Dies weiß auch die Politik und manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass schnell irgendwelche Dinge beschlossen werden, bevor wir dazu Stellung beziehen können. Wir sind Menschen mit Beatmung, Menschen mit Intensivpflegebedarf oder technologieabhängige Menschen. Wir sind abhängig von anderen Menschen, die ganz viele, große und auch kleine Dinge für und mit uns tun. Das bedeutet, dass wir unser Leben selbstbestimmt leben, da wir unseren Kopf selbstbestimmt mit einsetzen. Und es gibt auch diejenigen, die das nicht können, für die müssen wir stellvertretend mitreden. Das bedeutet aber auch, dass wir in vielen Bereichen nur so gut sind, wie das „schwächste“ Mitglied unseres Teams. Zurück zur Frage nach einer verfassungsrechtlichen Prüfung: Bis jetzt waren wir voll damit beschäftigt, uns ganz persönlich mit dieser, doch sehr umfassenden Veränderung zu beschäftigen. Dann kam unser vielfältiges Engagement zur „Beeinflussung und Lenkung“ des Gesetzes, der Richtlinie und der Umsetzung. Wir haben Stellungnahmen geschrieben und bei Sitzungen des Gemeinsamen Bundes-Ausschusses (GBA) teilgenommen. Wir haben eine sehr erfolgreiche Protestaktion namens „selbst und bestimmt“ durchgeführt und wir treffen uns als ThinkTank seit Beginn in gefühlten hunderten von online-Sitzungen mit allen Akteuren dieses Gebietes.

Jetzt gilt es, zu prüfen, wie dieses Gesetz mit dem GG zu vereinen ist und was die UN-BRK dazu sagt. Die Umsetzung muss ethisch und politisch begleitet und immer wieder neu überprüft werden. Wir sind noch lange nicht am Ende dieser unendlichen Geschichte aber wir haben uns wenigstens auf den Weg gemacht.

kobinet-nachrichten: Maria-Cristina Hallwachs, wir bedanken uns für diese Informationen und wünschen Ihnen auf diese Weg viel Erfolg!

Maria-Cristina Hallwachs: Ich weiß, was gut für mich ist! in der Zeitschrift „beatmet leben“ 4/2022