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Warum bei der Bahn Inklusion nicht funktioniert und ein Premiumkunde vergrault wurde

Alexander Drewes
Alexander Drewes
Foto: privat

Kassel (kobinet) Wie die Deutsche Bahn (DB) einen Premiumkunden - mutmaßlich sogar dauerhaft - vergrault hat, was das über das "System Bahn" aussagt und weshalb Inklusion hier nicht funktioniert, damit beschäftigt sich Alexander Drewes in einem Kommentar, den dieser den kobinet-nachrichten zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

Kommentar von Alexander Drewes

Wie die Deutsche Bahn (DB) einen Premiumkunden – mutmaßlich sogar dauerhaft – vergrault hat, was das über das „System Bahn“ aussagt und weshalb Inklusion hier nicht funktioniert

Ich fahre seit Menschengedenken mit dem Zug, mindestens regelmäßig seit 1974, als ich in eine Fördereinrichtung für sehbehinderte Kinder in Augsburg – wir haben damals in Kempten gewohnt – eingeschult worden bin. Als ich mich dem Erwachsenenalter genähert habe, wurde ich ein – wirklich begeisterter – Nutzer des Systems Bahn, ohne jemals in der Versuchung gewesen zu sein, „Pufferküsser“ werden zu wollen.

Zunächst habe ich über Jahrzehnte die BahnCard (BC) 50 First genutzt, von 2016 ab dann die BahnCard 100 First. Während es über die Jahre hinweg eigentlich kein wirklich wesentliches Problem dargestellt hat, dass meine Hör- und Sehbeeinträchtigung immer umfänglicher geworden ist (seit fünf Jahren bin ich taubblind, was aber grundständig jetzt auch kein so massives Problem darstellt; man hatte ja im Zweifel doch ziemlich regelmäßig eine – für Schwerbehinderte mit dem Merkzeichen „B“ eine bare Selbstverständlichkeit – kostenfreie Begleitperson mit dabei), fingen meine Schwierigkeiten und mein Dauer-Ärger mit insbesondere DB Service im letzten Jahr an, seitdem ich auch noch dauerhaft im Rollstuhl sitze.

Ich habe die Bahn in summa ungefähr zu 80 bis 90 Prozent beruflich und den Rest privat genutzt. Die berufliche Nutzung – sei es bei Anhörungen in Landtagen oder im Bundestag, bei Prozessvertretungen vor Ober- und Bundesgerichten, bei Meetings, bei denen ein „persönliches Aufschlagen“ zweckmäßig bis erforderlich war – konnte ich mit diesem Verkehrssystem – mindestens im Bereich Fernverkehr – weitgehend vergessen.

Für Menschen mit Beeinträchtigungen, insbesondere körperlicher Natur (oder solcher des Hör- oder Sehsinns), hat die DB einen sogenannten Mobilitätsservice eingerichtet. Um denselben nutzen zu können, muss man sich mindestens am Vortag – bis gegen 21 Uhr – bei der Mobilitätsservice-Zentrale gemeldet haben. Das alleine garantiert aber noch keine Mitnahme, der Mobilitätsservice muss nämlich auch verfügbar sein. Nun verfügt die DB allein über mehr als 2.000 Bahnhöfe und darüber hinausgehend über mehr als 3.000 sogenannte Haltepunkte.

Der Fernverkehr ist in weiten Teilen barrierefrei gar nicht nutzbar, weil es systembedingt fast ausschließlich Hocheinstiegsmöglichkeiten gibt, die eine – entweder fahrzeuggebundene oder – wesentlich häufiger – nicht an ein Fahrzeug geknüpfte Einstiegshilfe bedingen. Selbst erstere ist weitgehend nicht selbständig nutzbar, letztere grundsätzlich nicht, man ist folglich zwingend auf von der DB entweder unmittelbar oder mittelbar gestelltes Personal angewiesen. Nach dem Erfahrungsschatz eines knappen dreiviertel Jahres war ich im Februar 2022 soweit, meine Bahncard zu kündigen. Immerhin – man sollte nicht nur meckern – war das Unternehmen bereit, die Kündigung vorfristig anzunehmen.

Weshalb habe ich aber nun gekündigt?

Der Mobilitätsservice ist – abgesehen von Bahnhöfen der Kategorie A – grundsätzlich zeitlich befristet, das heißt es kann bei Weitem – selbst im Kernnetz – eine auch nur ansatzweise vollständige Verfügbarkeit der Verkehre gar nicht garantiert werden.

Das Angebot des Mobilitätservice erstreckt sich über nicht einmal 20 Prozent des Gesamtangebots, das die DB an Bahnhöfen vorhält (naturgemäß gibt es denselben überhaupt nicht an Haltepunkten, da dieselben in aller Regel gar nicht personenbedient betrieben werden).

Die Fahrzeuge sind in aller Regel – und das ist durchaus so gewollt – so konstruiert, dass eine Mitnahme von Betroffenen (zumindest von Rollstuhlnutzenden) lediglich in der 2. Wagenklasse möglich ist, zudem findet dann regelmäßig eine Parzellierung in einer Art und Weise statt, dass der Transport mit Reisenden zum Beispiel mit Familienanschluss (regelmäßig mit kleinen Kindern) vonstatten geht, was ein Arbeiten im Zug faktisch unmöglich macht (abgesehen von der unseligen Angewohnheit der DB, bei Neuanschaffungen mittlerweile weitgehend auf Abteile zu verzichten, in denen allerdings – zugegebenermaßen – Rollstuhlnutzende, denen das Umsetzen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist, auch nicht mitfahren können).

Der Fernverkehr ist – 20 Jahre nach dem Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) auf Bundeseben und über zehn Jahre nach dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) – nach wie vor für beeinträchtigte Menschen weitgehend nicht selbständig nutzbar. Die DB verfährt diesem Personenkreis gegenüber in einer Art und Weise des Paternalismus, von der man bei Schaffung der Konzernstruktur im Jahr 1994 ausgegangen war, dass dieselbe längst vergangenen und unseligen Zeiten angehöre.

Juristisch errachtet stellt die Leistungsgewährung der DB uns gegenüber regelmäßig eine Schlecht- bzw. Nichtleistung dar, die zum Schadenersatz berechtigen würden, wenn, ja wenn für die DB nur die normalen gesetzlichen Regelungen gelten würden. Da das Unternehmen massengeschäftlich tätig ist und man den ganzen Ansatz des Mobilitätsservice ohne viel Federlesen unter die Rubrik Diskriminierung fassen kann, könnte man – so die DB denn ein völlig normales Unternehmen wäre – auf Schadenersatz aus Diskriminierung wegen einer Behinderung klagen. Weshalb das nicht geht, ist eigentlich ganz einfach: Das Unternehmen hat sich schon bei Schaffung des BGG 2002 eine gesetzliche Sonderregelung ausbedungen, die – gäbe es nicht das Recht der Europäischen Union – das Unternehmen bis heute von jeglicher Haftung im Diskriminierungsfall beeinträchtigten Menschen gegenüber freistellen würde.

Das Unternehmen möchte also, dass man für eine teilweise gewollt nicht erbrachte Leistung, die es zudem für den hier vorgestellten Personenkreis auch noch kontingentiert und den ansonsten in der 1. Wagenklasse selbstverständlichen Service (für den man immerhin einen weiteren Aufpreis von 10 Prozent über die 50 Prozent, die die 1. Klasse sowieso schon teurer ist als die 2. Klasse) teilweise bewusst nicht bietet, trotzdem den vollen Preis von knapp 700 Euro monatlich für eine Bahncard 100 First bezahlt, also über die normale steuerliche Abschreibungszeit einen Mittelklassewagen der deutlich gehobenen Kategorie?

Auch der Umgang mit – regelhaft berechtigter – Kritik zeugt davon, dass die DB, was das Thema Service betrifft, irgendwann in den 1970er Jahren stehengeblieben sein muss, ansonsten wird einem schlichtweg nicht gewahr, weshalb der damals für uns vorherrschende Terminus des „Beförderungsfalles“ (von Kunde will ich hier überhaupt nicht schreiben) für die Leistungserbringung des Unternehmens heutzutage eher einen Euphemismus darstellt.

Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) mochte den Umstand, dass beeinträchtigte Menschen die Deutsche Bahn nicht nutzen können, wenn sie Spontanfahrten unternehmen wollen und hinsichtlich der weiteren Beschränkungen, nicht mehr hinnehmen und hat die DB zwischenzeitlich diesbezüglich verklagt. Gott sei Dank, kann man nur sagen.

Lesermeinungen

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6 Lesermeinungen
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Hauke Brandt
05.07.2022 15:39

Hallo Alex und alle Weiteren,
erstmal teile ich deine Meinung und Einschätzungen voll und ganz. Was das Thema Barrierefreiheit angeht, ist die Deutsche Bahn ganz offensichtlich seit Jahrzehnten beratungsresistent. Wie du und auch viele Andere schon ausgeführt haben, , sind die Leistungen des Mobilitätsservices ehrlich gesagt ein Witz und nahezu ein Schlag ins Gesicht all Derjenigen, die mehr oder weniger auf Unterstützung angewiesen sind. Ich selbst bin „nur blind“ und nutze den Mobilitätsservice eher selten, aber bin immer wieder erschüttert, wenn ich über die fast nur negativen Erfahrungen von Rollstuhlfahrern bei der Bahn lesen muss.
Erschreckend finde ich auch immer wieder Aussagen von Leuten, die meinen, dass das Thema Barrierefreiheit für die gesamte Bahn viel zu groß und zu teuer sei und viel zu lange bräuchte. So was kommt einfach dabei heraus, wenn man Derartiges über Jahrzehnte vernachlässigt. Was man in dieser langen Zeit verbockt hat, kann man halt nicht innerhalb von wenigen Monaten oder eins bis zwei Jahren aufholen. Das ist aber absolut kein Grund, nicht auf der Stelle mit umfangreichen Nachbesserungen anzufangen. Wenn man jetzt nicht beginnt, werden die Probleme nie kleiner. Und natürlich werden diese Arbeiten zig Millionen Euro kosten, Barrierefreiheit gibt’s nun mal nicht zum Nulltarif. Doch letztendlich profitieren alle Fahrgäste von entsprechenden Maßnahmen. Ältere Menschen – unsere Gesellschaft wird im Durchschnitt halt stets älter – genau so wie Personen mit Kinderwagen, Rollatoren und auch Rollstuhlfahrer.
Ich finde es traurig, dass Frau Engel-Kuhn offenbar noch immer die Beauftragte für Fahrgäste mit Schwerbehinderung bei der Deutschen Bahn ist. Ich hatte vor vielen Jahren das zweifelhafte Vergnügen, diese Frau persönlich kennen zu lernen. Damals sprach ich sie darauf an, dass es mir als blindem Fahrgast nicht möglich ist, im Internet – Smartphones waren damals noch kaum verbreitet – eine kostenlose Sitzplatzreservierung zu buchen, was übrigens bis heute nicht funktioniert. Dafür muss ich zwingend die Mobilitätsservicezentrale anrufen und mir über die dortigen Mitarbeiter eine Reservierung buchen. Ein ebenfalls blinder Bekannter und ich schlugen ihr damals vor, dass man diese Funktionalität in das Benutzerprofil eines jeden Fahrgastes mit aufnehmen sollte. Den Nachweis darüber, dass man über die Berechtigung einer kostenlosen Reservierung verfügt, könnte man einmalig der MSZ zukommen lassen, die dann die Funktion im Benutzerprofil freischalten könnte. Ihre Antwort darauf war in etwa: „Das klingt Alles ganz nett, nur ist die Umsetzung viel zu teuer. Das kann ich keinesfalls einfordern!“ Wer in der Position der Schwerbehindertenvertreterin derart argumentiert, ist meiner Meinung nach für diese Position absolut untragbar. Als Vertreterin für Menschen mit Schwerbehinderung dürfen die Kosten der Umsetzung bei der Forderung dazu überhaupt keine Rolle spielen.
Barrierefreiheit ist aber leider nicht die einzige Baustelle bei der Deutschen Bahn. Wenn man sich Berichte und Kommentare von Leuten dazu durchliest, die nicht schwerbehindert sind, bekommt man über die beschriebenen Zustände der Bahnhöfe, Züge und Gleisanlagen auch das kalte Grausen. Auch deswegen habe ich kaum die Hoffnung, dass sich in naher und fernerer Zukunft für Menschen mit Schwerbehinderung, die auf Unterstützung durch den Mobilitätsservice angewiesen sind, etwas zum Positiven ändern wird.

Alexander Drewes
Antwort auf  Hauke Brandt
05.07.2022 22:30

Sehr geehrter Herr Brandt,

was mich an der Kritik von hochqualifizierten und noch deutlich mehr im Thema drinsteckenden Leuten wie Arnd Hellinger irritiert, ist der Umstand, dass sie scheinbar dem System Bahn mehr huldigen als unserem berechtigten Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe.
Kein Mensch wird verlangen können, dass man auf sämtlichen der über 5300 Bahnhöfen und Haltepunkten einen Mobilitätsservice einrichtet, geschweige denn eine niveaugleiche Angleichung der Bahnsteighöhen betreibt (das ist schon deshalb ein außerordentlich komplexes Thema, weil es ggw. mindestens drei Bahnsteighöhen gibt, die technisch notwendig sind).
Ich verstehe nicht – und as vermutlich auch nicht zu verstehen – weshalb jetzt die Einrichtung im Fernverkehr mit fahrzeuggebundenen Einstiegshilfen wiederum Jahre bis Jahrzehnte dauern soll, die jetzt anstehende Neubeschaffung mit dem Nachfolgemodell des ICE der 3. Generation wird wiederum ähnliche Probleme aufweisen, wie dies bereits beim ICE 3 der Fall war.
Weshalb es das System Bahn allerdings in den knapp dreißig Jahren seit der Bahnreform nicht geschafft hat, in mehr als nur Ansätzen Barrierefreiheit herzustellen (für uns blinde Nutzer ist diesbezüglich – abgesehen von der mittlerweile erfolgenden taktilen Beschriftung an den Sitzen im Fernverkehr – überhaupt nichts Nennenswertes passiert), kann man im Grunde nur mit Dickfelligkeit oder Ignoranz beantworten.
Dass Fr. Engel-Kuhn, die ich persönlich eigentlich schätze, bei DB Service für die Belange mobilitätseingeschränkter Fahrgäste zuständig zeichnet, ist natürlich schon insofern problematisch, als man in der wesentlichen Verantwortung für diese Position eigentlich eine/n Selbstbetroffene/n, der der Behindertenbewegung zudem mindestens nahestehen sollte, einsetzen müsste.
Die Usability für schwerbeeinträchtigte Nutzer hinsichtlich der kostenfreien Sitzplatzreservierung ist ein Thema, das ich als vormaliger Inklusionsbeauftragter von PRO BAHN bei Fr. Engel-Kuhn bei einem Gespräch vor Jahren angesprochen habe. Auf meinen Einwand, es reiche dann doch hin, wenn beispielsweise ein Faksimilé des Schwerbehindertenausweises z.B. beim Mobilitätsservice hinterlegt würde, wurde allerdings mit – noch nicht einmal fadenscheinigen, sondern einfach an den Haaren herbeigezogenen – wenig triftigen Argumenten negiert.
Eben weil mir fast jegliche Hoffnung fehlt, dass sich an den Zuständen in näherer Zukunft irgendetwas Wesentliches ändern wird, werden wir uns jetzt – ich brauch‘ das schon im Rahmen meiner anstehenden Selbständigkeit – ein barrierefrei nutzbares E-Auto anschaffen. Und das mir, der ich wirklich ein ausgesprochener Fan des Systems Schiene bin. Insofern lesen sich meine Beiträge zu diesem Thema aber vermutlich auch häufiger wie diejenigen eines enttäuschten Liebhabers.

Mit bestem Gruß

Alexander Drewes.

Sabrina Mevis
04.07.2022 18:50

Hm, im Nahverkehr, also bei Regiozügen funzt es auch. Mal abgesehen davon, was macht die Bahn, wenn ältere Menschen mit Rollator die Treppen nicht hochkommen? Wollen die ernsthaft, dass dann jedes mal der Mob-Service konsultiert wird? Man kann Menschen ins All schicken, aber einen Rollstuhl selbständig in den Zug befördern geht nicht? Platz schaffen kann man auch, vier Sitze raus reißen = ein Platz für einen normalen Rollstuhl. Wie oft kommt es tatsächlich vor, dass ein Fernzug komplett besetzt ist und man dadurch Passagiere verliert, dass man sagen wir 4 Sitzreihen abbaut, um Platz für Rollstühle oer Rollatoren zu schaffen?

Alexander Drewes
Antwort auf  Sabrina Mevis
05.07.2022 22:51

Sehr geehrte Frau Mevis,

der schienengebundene Nahverkehr zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass er aufgrund Ausschreibungen erfolgt. In den Ausschreibungskriterien stellt es mittlerweile ein feststehendes Moment dar, dass die Betreiber Barrierefreiheit entweder garantieren müssen oder dieselbe bei einer vorhandenen Fahrzeugflotte – einige Länder haben diesbezüglich Fahrzeugpools gebildet – per se vorhanden ist.
Fernverkehr betreibt DB Fernverkehr – wie im Übrigen auch Flixtrain – eigenwirtschaftlich, d.h. Kosten für die Herstellung von Barrierefreiheit müssen dem Grunde nach – lassen wir jetzt einmal DB Station & Service außen vor – eigenwirtschaftlich erbracht werden.
Der Teufel steckt folglich im Detail und liegt eigentlich als Problem in der Bahnreform aus dem Jahr 1994 begründet. Die Eigenwirtschaftlichkeit des Fernverkehrs wurde nämlich nicht damit unterfüttert, dass man gleichzeitig auf dem barrierefreien Ausbau der Fahrzeuge bestanden hat.
Die DB reagiert auch eher als sie agiert. Der Zwang, jetzt nach und nach fahrzeuggebundene Einsteigehilfen vorzuhalten (ein niveaugleicher Fernverkehr wäre zwar theoretisch möglich, scheitert aber bislang weitgehend an der Bauweise insbesondere der ICE) folgt auch eher einer aus dem Jahr 2007 stammenden EU-Richtlinie, die die barrierefreie Nutzbarkeit wenigstens im grenzüberschreitenden Verkehr vorschreibt (funktioniert zwar auch weitgehend nicht, aber der Ansatz stammt immerhin aus dieser Richtung).
Dass sich insbesondere die DB mit dem Ansatz von Barrierefreiheit ständig verhebt, zeigt sich z.B. an der Aussage des vormaligen Vorstandsvorsitzenden Grube vor einigen Jahren, meinte derselbe doch, bis zum Jahr 2020 seien sämtliche Bahnhöfe barrierefrei ausgestaltet. Selbst wenn man nun aber lediglich den vergleichsweise wachsweichen Terminus der behindertenfreundlichen Nutzbarkeit heranzieht, kommt die Grube’sche These auch 2022 hinten und vorne nicht hin.
Man hat das Pferd sozusagen schon deshalb von der falschen Seite aufgezäumt, weil man bei Schaffung der Bahnreform nicht realisiert hat (oder es einfach ignoriert hat, damals war so etwas noch möglich), dass Barrierefreiheit ein für die Zukunft zunehmend relevanter werdender Topos auch im Bereich Verkehr sein würde. Wäre man schon damals von einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für das Thema Barrierefreiheit ausgegangen und hätte den Topos Barrierefreiheit nicht auf dem Altar der wirtschaftlichen Spielmasse geopfert, wären wir heute auch im Fernverkehr schon um Längen weiter als wir das leider sind.

Mit bestem Gruß

Alexander Drewes.

Arnd Hellinger
04.07.2022 14:43

Ich weiß ja nicht, in welcher Traumwelt Alexander Drewes und die ISL so leben, aber weder in den USA, der Schweiz noch anderswo funktioniert Eisenbahn-Fernverkehr so, dass Rollstuhlnutzende ohne vorherige Anmeldung von Überall nach Überall fahren können, weil in allen Ländern moderne Fernzüge nur jeweils über eine bauartbedingt fest definierte Anzahl barrierefreier Plätze nebst entsprechender Sanitärbereiche verfügen. Öffentlicher Fernverkehr – egal ob zu Schiene, zu Straße oder in der Luft – ist nun einmal kein Stadtbus und keine S-Bahn..

Lasst uns bitte halbwegs realistisch bleiben. Auch dann haben wir in Sachen Barrierefreiheit leider noch mehr als genügend zu bearbeitende Baustellen.

Alexander Drewes
Antwort auf  Arnd Hellinger
04.07.2022 18:00

Lieber Anrd,

Vorliegend unterstellst Du Umstände, von denen ich gar nichts geschrieben habe und die mit Sicherheit auch nicht der ja wohl von Oliver Tolmein für die ISL – Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben betriebenen Klage zugrunde liegen.
Kein Mensch verlangt, dass DB Fernverkehr – schon gar nicht von heute auf morgen – barrierefrei ausgestaltet wird. Ich denke aber doch, dass wir uns zumindest dahingehend einig sind, dass es zumutbar wäre, zumindest in allen Fernverkehrszügen fahrzeuggebundene Einstiegshilfen einzubringen, die a. ohne fremde Hilfe, b. ohne besondere Erschwernis und c. derart einfach, dass sie in der Nutzung keine wesentlichen Schwierigkeiten darstellen, zugänglich und nutzbar sind.
Hinsichtlich der Bahnsteigproblematik müssen wir uns – glaube ich – nicht umfänglich streiten, alleine die jahrzehntelange Diskussion zwischen Fern-, Nah- uns S-Bahnverkehr zeigt hier recht eindrücklich, dass die Bretter, die dort zu bohren sind, uns noch auf Jahre bis Jahrzehnte hin beschäftigen werden.
Im Nahverkehr löst sich das Problem weitgehend über Ausschreibungen.
Mein fundamentaler Kritikpunkt – insofern schon nicht ganz unrichtig von Dir herausgearbeitet – ist aber der Mobilitätsservice. Natürlich ist es wohlfeil, in Berlin darüber zu palavern, dass der Rest der Republik sich doch diesbzeüglich nicht so haben solle, ihr habt dort – verglichen z.B. mit Kassel – geradezu eine Luxussituation, was den Mobilitätsservice betrifft. Wenn ich – wie hier die ersten beiden Früh- und die letzten beiden Spätzüge im Fernverkehr von und nach Berlin, Hamburg, Stuttgart und München nicht nutzen kann, weil der Mobilitätsservice dann halt schon (oder noch) Feierabend hat, ist das nicht zielführend, wenn man terminlich gebunden ist.
Es ist auch nicht zielführend, dass meine blinde Tochter teilweise – wohlgemerkt an Sonntagen – bestimmte Nahverkehrsverbindungen zwischen Kassel-Wilhelmshöhe (am Hbf wird überhaupt kein Mobilitätsservice angeboten) und Marburg (Lahn) nutzen kann, weil es dort lediglich eine/n einzige/n MItarbeitende/n gibt, der den Mobilitätsservice leistet (in Marbug sitzen u.a. die Deutsche Blindenstudienanstalt und die Bundesvereinigung Lebenshilfe).
Zudem stelle ich explizit infrage, ob bei dem von mir favorisierten Modell tatsächlich eine Voranmeldung am Vortag erfolgen muss, Spontanverkehre sind so – zugegeben: das kommt im Fernverkehr auch eher selten vor – praktisch völlig unmöglich.
Letztlich ist es mir auch wurscht, ob der Mobilitätsservice durch DB Service oder durch DB Fernverkehr erfolgt, ich empfinde es allerdings – die diesbezügliche Liste wird Dir bekannt sein – schon als ein Unding an wie wenigen Bahnhöfen der Mobilitätsservice überhaupt zugange ist. Ohne die Schweiz jetzt wieder einmal allzu sehr lobpreisen zu wollen (die machen gerade im Bereich Barrierefreiheit so einiges falsch), aber: Weshalb funktioniert der Mobilitätsservice dort kurzfristig und nicht mit mindestens einem Tag Vorlauf?
Klassisches Beispiel aus dem letzten Jahr, wie es nun überhaupt nicht laufen kann:
Für meinen Urlaub auf dem Darß brauchte ich eine Ausstiegshilfe in Ribnitz-Damgarten. Der einzig vernünftig verkehrende durchgehende Zug kam zu einer Zeit an, während derer der Mobilitätsservice dort nicht besetzt ist (nachmittägliche Pause). Erst die Androhung eines Antrages auf einstweilige Anordnung hat die Mobilitätsservice-Zentrale veranlasst, den Mobilitätsservice zur Verfügung zu stellen.
Ich könnte dieser Beispiele im Dutzend – und ich sitz‘ erst seit eineinviertel Jahren im Rollstuhl – bringen (auch als Taubblinder hab‘ ich den Mobilitätsservice zuvor nie in Anspruch genommen).
DB Fernverkehr weiß spätestens seit 2002, als wir das BGG auf den Weg gebracht haben, dass da massiv etwas auf sie zukommt. Die sie im grenzüberschreitenden Fernverkehr verpflichtende EU-Richtlinie aus dem Jahr 2007 hat sie dann veranlasst, bei Neuanschaffungen – wenigstens teilweise – fahrzeuggebundene Einstiegshilfen einzubringen. Auch wenn mir Fr. Engel-Kuhn mehr oder minder regelmäßig erzählt, es würde sich doch jetzt alles zum Besseren wenden: Nach den Erfahrungen der letzten 28 Jahre sage ich Dir: Die fahren großenteils einfach mit uns Schlitten, weil sie denken, dass sie es können.
Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die ISL mit ihrer Klage durchdringen wird (das wird auch entscheidend davon abhängen, wie dieselbe begründet wird), aber jetzt den Schwanz einzuziehen und zu sagen, wir geben ihnen jetzt noch einmal 30 Jahre Zeit, vielleicht bekommen sie es ja bis dann hin, will ich schon deswegen nicht, weil ich mich durch DB Fernverkehr massiv diskriminiert fühle und ich gesundheitlich nicht das Gefühl habe, dass ich das Ende dieser 30 Jahr auch nur halbwegs erleben werde.
Natürlich gibt es unendlich viele dicke Bretter im Bereich Barrierefreiheit zu bohren, aber wir sollten das von uns beiden außerordentlich geschätzte Verkehrsmittel Bahn da auf keinen Fall ausnehmen, nur weil es technisch komplex ist.
Und was man auch der DB mal hinlänglich ins Stammbuch schreiben muss: Nicht über uns, nicht ohne uns bedeutet eben auch, dass man sich in Beiräte nicht nur Leute holen darf, die denen scheinbar wirklich jeden denkbaren Blödsinn abzunicken scheinen.

Mit bestem Gruß

Alex.