Menu Close

Corona: Zurück auf Los?

Ottmar Miles-Paul
Ottmar Miles-Paul
Foto: Franziska Vu ISL

Kassel (kobinet) Von vielen bereits früh vorausgesagt, sind wir nun in der zweiten Welle der Corona-Pandemie angekommen und ein trauriger "Rekord" von Neuinfektionen und den damit verbundenen Folgen jagd den anderen. Und plötzlich steht das Thema "Triage" international wieder auf der Tagesordnung. Im Vorfeld des heutigen Treffens der Ministerpräsident*innen mit der Bundeskanzlerin zeichnet sich ab, dass wieder härtere Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie beschlossen werden müssen. Alles wieder zurück auf Los? Das fragt sich kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul in seinem heutigen kobinet-Kommentar.

Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

Der aus dem Französischen stammende Begriff „Déjà-vu“ wird auf Wikipedia mit „schon gesehen“ übersetzt. Demnach bezeichnet man mit dem Begriff Déjà-vu „eine Erinnerungstäuschung, bei der eine Person glaubt, ein gegenwärtiges Ereignis früher schon einmal erlebt zu haben. Dabei hat die betroffene Person das sichere Gefühl, eine neue Situation bereits in der Vergangenheit in gleicher Weise schon einmal durchlebt zu haben.“ Ein solches Déjà-vu haben derzeit viele Menschen, die die traurigen und beängstigenden Nachrichten über die Entwicklung der Corona-Pandemie verfolgen – nur dass es sich dabei um keine Erinnerungstäuschung, sondern um eine ganz reale Situation handelt, die wir im Frühjahr dieses Jahres erleben und meistern mussten.

Auch wenn nach der Lockerung der weitgehenden Schließung vieler öffentlicher Angebote und der massiven Kontaktbeschränkungen im Frühjahr erst einmal durchatmen angesagt war und man sich wieder mit Urlaub und Festen beschäftigen konnte, hat sich in diesem Jahr nie eine Leichtigkeit bei alltäglichen Dingen eingestellt, wie wir dies über sehr viele Jahre hinweg gewohnt waren. Dabei haben viele trotzdem gerne verdrängt, was Expert*innen für den Herbst und Winter mit der zweiten Welle der Pandemie vorausgesagt, wenn wir nicht gut aufpassen. Nun befinden wir uns – warum auch immer – in dieser zweiten Welle und die Ansteckungsraten schnellen in vielen Ländern, wie auch in Deutschland, weit über die Werte hinaus, die wir vom Frühjahr kannten. Heißt es nun also, zurück auf Los? Das fragen sich viele gerade heute vor den Beratungen der Ministerpräsident*innen und der Bundeskanzlerin. Und viele behinderte Menschen bangen besonders, was das für ihre Selbstbestimmung, Teilhabe und auch Gesundheit bedeutet.

Auch wenn die Voraussetzungen im Vergleich zum März dieses Jahres andere sind und wir mittlerweile viel über das Virus wissen und wie wir uns davor schützen können, die Testkapazitäten viel höher und weiterentwickelter sind, Masken, Desinfektionsmittel, Klopapier und Nudeln ausreichend zur Verfügung stehen und das Bewusstsein gewachsen ist, dass man behinderte und ältere Menschen nicht einfach ohne Kontaktmöglichkeiten wegsperren kann, lassen Nachrichten wie die folgenden Schlimmes befürchten:

„In Deutschland gibt es laut Johns-Hopkins-Universität derzeit 463.419 bestätigte Infektionsfälle. Im Schnitt kommen derzeit täglich 11.120 dazu. Insgesamt sind hierzulande bereits 10.121 Menschen gestorben“, vermeldet heute am 28. Oktober 2020 zdfheute. Das sind 48 Tote mehr als am Vortag. Weiter heißt es dort, dass es mittlerweile 43.907.193 nachgewiesene Ansteckungsfälle in 189 Ländern mit 1.166.240 Menschen gibt, die an den Folgen des Virus gestorben sind. Auch das Thema Triage steht in einigen Ländern bereits wieder auf der Tagesordnung. So berichtet zdfheute weiter, dass die französische Regierung Abgeordneten zufolge ohne strengere Maßnahmen eine Überfüllung der Krankenhäuser befürchtet. Die Situation sei besonders ernst. Wenn die Kurve nicht abgeflacht werden könne, könnten die französischen Krankenhäuser in 15 Tagen keine Patienten mehr behandeln. Die Zahl der Todesfälle stieg in Frankreich an einem Tag um 523 – am Montag lag diese Zahl noch bei 257.

Auch ein Blick auf den Coronavirus Live-Ticker von ntv macht den Ernst der Lage deutlich. Demnach sind Dutzende Ärzte und Pfleger in den völlig überlasteten Kliniken der belgischen Provinz Lüttich nach Angaben von Gewerkschaftern trotz Infektion mit dem Coronavirus im Dienst. „Zuletzt wurden Patienten in andere belgische Regionen und teils auch über die deutsche Grenze nach Aachen verlegt“, heißt es auf ntv. In einer anderen ntv-Nachricht geht es um deutsche Intensivmediziner, die Alamr schlagen und vor Engpässen bei der Versorgung von Covid-19-Patienten wegen des Fehlens von Pflegepersonal warnen. „Es gebe inzwischen ‚ausreichend Kapazitäten an freien Intensivbetten und Beatmungsgeräten‘, sagt der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Uwe Janssens, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Das allein helfe aber nicht weiter, ‚wenn wir kein Personal haben, um die Patienten zu versorgen‘. Hierin liege ‚das viel größere Problem‘. Grob geschätzt fehlten bundesweit 3500 bis 4000 Fachkräfte für die Intensivpflege, so Janssens.“

Diese beängstigenden Nachrichten ließen sich derzeit fast unendlich fortsetzen. Daher scheint die Verfassungsbeschwerde, die Aktive von AbilityWatch vor einigen Monaten beim Bundesverfasungsgericht eingereicht haben, doch aktueller denn je zu sein, so dass das Gericht trotz der laufenden Anhörung von Verbänden sich schnell mit dem Thema Triage befassen sollte.

Die Herausforderung besteht nun darin, dass wir reagieren und den Verlust weiterer Menschenleben und die Infektion mit zum Teil schwerwiegenden Folgen vieler tausender Menschen verhindern. Daher darf man darauf gespannt sein, welche Maßnahmen die Ministerpräsident*innen heute mit der Bundeskanzlerin beschließen und ob es den einzelnen Akteur*innen gelingt, über ihre Einzelinteressen hinaus zu wachsen, um den Menschen hierzulande einheitliche und wirksame Regelungen an die Hand zu geben. Damit verbunden müssen weitere finanzielle Absicherungen für die von der Pandemie besonders getroffene Menschen geschaffen werden.

Was dabei nicht passieren darf, ist dass die Menschenrechte behinderter Menschen weiterhin eingeschränkt werden. Viele behinderte Menschen sind sich ihrer prekären Lage wegen Vorerkrankungen sehr bewusst – unnötige Kontaktbeschränkungen wären dabei kontraproduktiv. Möge es den Verantwortlichen also gelingen, hier ein gutes Maß zwischen der Verhinderung von Infektionen und dem Selbstbestimmungsrecht und dem Recht auf Teilhabe der Betroffenen zu finden.

Um für die vor uns liegende trüben Aussichten ohne eine weitere Spaltung der Gesellschaft zu meistern, sollte meines Erachtens auch endlich die weitgehende Mauer des Schweigens über die konkreten Auswirkungen der Pandemie für viele Betroffene durchbrochen werden. Wenn wir weiterhin nur abstrakt über Zahlen und Fakten berichten und dabei die vielen Schicksale der mittlerweile über 10.000 aufgrund der Folgen des Virus verstorbenen Menschen und die zum Teil massiven Folgen von Infektionen weitgehend verschweigen, wird es den sogenannten Corona-Leugner*innen leichter gemacht, über diese Schicksale und Auswirkungen der Pandemie hinwegzugehen. Das mit dem Virus verbunde Leid und die konkreten Auswirkungen müssen sichtbarer und begreifbarer werden, auch wenn in diesem Lichte das Handeln einzelner Akteur*innen in der Krise etwas verblast. Vielleicht steigt dann auch das Verantwortungsgefühl so mancher Zeitgenossen für seine Mitmenschen?