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Hat die Bahn den Zug zur Barrierefreiheit verpasst?

Ottmar Miles-Paul
Ottmar Miles-Paul moderiert
Foto: Rolf Barthel

Kassel / Berlin (kobinet) Während die Deutsche Bahn in den nächsten Jahren durch zusätzliche Milliarden für Investitionen erheblich von der aktuellen Diskussion über den Klimawandel profitiert, reibt man sich angesichts der noch bestehenden Serviceprobleme und der damit zum Teil verbundenen Kommunikation des Unternehmens zuweilen verwundert die Augen. Angesichts der aktuellen Kritik am Einstiegsservice des langjährigen Grünen-Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, der mit Rollator unterwegs war, und der Journalistin Carina Zimniok, die schwanger mit Kinderwagen in den Zug einsteigen wollte, beleuchtet kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul in seinem Kommentar die Frage, wo die Bahn und die Politik den Zug in Sachen Barrierefreiheit verpasst hat.

Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

Eigentlich müsste die Deutsche Bahn täglich Stoßgebete gen Himmel für Greta Thunberg schicken und ihr überschwängliche Dankesbriefe schicken. Denn die mittlerweile 17jährige Schwedin hat mit ihrem anfangs noch sehr einsamen Schulstreik zusammen mit vielen engagierten Menschen der Fridays for Future Bewegung eine Diskussion zum Klimawandel angezettelt, die sich nun für die Bahn in Euro und Cent auszahlt. Auch wenn die nun geplanten Investitionen für die Infrastruktur der Deutschen Bahn noch viel zu gering sind und die Defizite der Vergangenheit kaum wettmachen können, kann sich das Unternehmen plötzlich über einen Geldsegen freuen, den es aus eigener Kraft kaum hätte bewirken können.

Doch die Bahn schoß sich mit ihrer seltsamen Kommunikation auf eine Nachricht mit einem Bild einer am Boden in einem vollen Zug sitzenden Greta Thunberg in den sozialen Medien selbst ins Knie. Statt den Ball von Greta Thunberg über die intensive Nutzung der Bahn in Deutschland positiv aufzugreifen, wurde erst verleugnet und dann sogar persönliche Daten preisgegeben, die so manchen Datenschützer auf den Plan rufen müssten. So agiert kein Zukunftsunternehmen, waren sich im Dezember viele Kommentator*innen einig.

Dass es mit dem Zukunftsunternehmen Bahn auch in Sachen Barrierefreiheit nicht weit her ist, wissen behinderte Menschen nur zu gut. Schon seit den Zeiten der Fahrten in den Gepäckwagen der Bahn wehren sich vor allem mobilitätsbehinderte Menschen gegen die in vielen Bereichen fehlende Barrierefreiheit und gegen so manche Diskriminierung, die sie im Alltag immer wieder bei Fahrten mit der Bahn erleben müssen. War dies bisher allzu häufig eine kleine Randdiskussion im großen Spiel der vielen politischen Themen, die die Politik tagtäglich beschäftigen, und wurde gerne als Nischenthema der ja ständig fordernden behinderten Menschen abgetan, rückt nun die Frage der Barrierefreiheit der Bahn und der öffentlichen Verkehrsmittel generell verstärkt ins Zentrum der Diskussion. Zaghafte Forderungen, dass die Verkehrswende nicht nur klimaneutral, sondern auch barrierefrei sein muss, werden langsam lauter – und das ist auch gut so.

Befeuert wurde diese Diskussion in den letzten Tagen durch zwei öffentlichkeitswirksame Erlebnisse, die über den sonst üblichen Dunstkreis der behinderten Menschen hinaus gehen. Zum einen ist da Hans-Christian Ströbele. Viele erinnern sich wahrscheinlich an den langjährigen Bundestagsabgeordneten der Grünen mit den buschigen Augenbrauen aus Berlin. Hans-Christian Ströbele ist zwar nicht mehr Abgeordneter des Deutschen Bundestag, aber nach wie vor äusserst streitbar. Dieser Hans-Christian Ströbele machte nun Bekanntschaft mit dem Service der Deutschen Bahn, als er mit seinem Rollator mit der Bahn reiste, und ist empört. Denn er musste sich förmlich mit seinem Rollator in den Zug quälen und zum Teil hineinhieven lassen. Dabei durfte er nicht den Hublift nutzen, den die Bahn als Ein- und Ausstiegshilfe für Rollstuhlnutzer*innen einsetzt. Nun will sich Ströbele für die Rechte von Rollatornutzer*innen einsetzen und zur Not mit Ronald Pofalla vom Vorstand der Deutschen Bahn sprechen, mit dem er viele Jahre im Bundestag saß. Wohl denen, die solche Leute direkt kennen.

Immer wieder wurde in der Behindertenbewegung spekuliert, ob die Alt-68er der Behindertenbewegung irgendwann einmal einen kräftigen Schub im Kampf für Menschenrechte bringen könnten. Die Grünen haben vor kurzem ihr 40jähriges Bestehen gefeiert und die Joschka Fischers, Hans-Christian Ströbeles und Claudia Roths werden älter. Scherzhaft wurde in so manchen Diskussionen darüber spekuliert, welchen Aufstand es in Heimen geben könnte, wenn diese Generation dort Einzug hält. Dies ist zwar noch nicht der Fall und wird es vielleicht auch nie sein, weil viele aufgrund besserer finanzieller Möglichkeiten andere Alternativen finden dürften als Gretchen Müller im normalen Altenheim. Aber die Empörung von Hans-Christian Ströbele über die Einstiegssituation bei der Bahn gibt Hoffnung, dass die „Altgedienten“ hier neuen Wind bringen. Wichtig wäre dabei allerdings, dass sich die Diskussion hierbei nicht nur darauf bezieht, dass man mit dem Rollator die Hublifte nutzen darf, sondern dass diese mittelalterlichen Einstiegshilfen mit Vorbuchungszwang etc. erst gar nicht mehr nötig sind, sondern von vorne herein barrierefreie Einstiege geschaffen werden.

Und dann ist da noch ein zweites Beispiel: Immer wieder haben behinderte Menschen in zum Teil anbiedernder Art und Weise darauf hingewiesen, dass Barrierefreiheit nicht nur ein Thema ist, dass behinderte Menschen betrifft, sondern beispielsweise auch Eltern mit Kinderwagen. Diese Bündnissuche blieb jedoch weitgehend unerhört, denn die Kinder werden groß und irgendwie war der Leidensdruck der Eltern dann doch nicht so groß, dass man sich mit behinderten Menschen verbünden müsste. Nun kommt fast parallel zu den Erfahrungen von Hans-Christian Ströbele mit der Bahn ein Bericht über eine schwangere Mutter, der mit ihrem Kinderwagen nicht in den Zug geholfen wurde. Auch hier dumm für die Bahn, dass es sich dabei um eine Journalistin handelt, die ihr Anliegen wie Hans-Christian Ströbele ebenfalls gut in den Medien platzieren kann. Carina Zimniok wollte mit dem Kinderwagen in München in einen Zug steigen und die Schaffnerin verweigerte ihr die Hilfe.

Und damit sind wir wieder bei der Kommunikation der Bahn und deren eingangs kritisierten Umgang mit Greta Thunberg. Anstatt der schwangeren Frau einfach unkompliziert beim Einstieg mit dem Kinderwagen zu helfen, wird rumgezickt und über Twitter auf versicherungstechnische Regelungen verwiesen, die es so gar nicht gibt. Also muss man wieder zurückrudern und blamiert sich wieder einmal aufs Feinste. In einer Phase, in der viele Menschen gerade im Hinblick auf den Klimawandel der Bahn positiver zugeneigt sind als je zuvor und sich gute Chancen bieten, mehr Fahrgäste zu gewinnen und das Angebot auszubauen, könnte man von einem Unternehmen wie der Bahn erwarten, solche Baustellen endlich abzuräumen und einen klaren nutzerfreundlichen Kurs in Sachen Barrierefreiheit anzusteuern. Die Milliarden, die zukünftig fließen werden und die durch eine gezielte Lobbyarbeit sicher auch noch aufgestockt werden könnten müssen dafür genutzt werden, dass die Bahn und damit auch die Politik endlich die Weichen auf konsequente Barrierefreiheit setzt. Denn eine Verkehrswende, die diesen Namen verdient, muss nutzerfreundlich und damit barrierefrei sein. „Bei der Verkehrswende muss an alle gedacht werden, auch Familien mit Kinderwagen und ältere Menschen mit Rollator“, so bringt es Alexander Ahrens von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) in dem Bericht des ZDF über die Diskriminierungen der Bahn auf den Punkt.

Link zum ZDF-Bericht „Bahnfahren mit Barrieren“ von Luisa Houben

Link zum Bericht „Notfalls schreibe ich Herrn Pofalla“ Ströbele legt sich wegen Reise mit Rollator mit Bahn an im TAGESSPIEGEL